Bindung - ein grundlegendes Bedürfnis des Menschen
Wir Menschen, insbesondere Kinder, haben ein tief verwurzeltes Bedürfnis nach Zugehörigkeit. So wie wir Nahrung und Schlaf benötigen, sind auch positive und dauerhafte Beziehungen unerlässlich für unser Wohlbefinden. Dieses Bedürfnis ist nicht nur evolutionär bedingt, sondern prägt auch unsere psychische Gesundheit in entscheidendem Masse.
Der Mensch ist ein soziales Wesen, und das Verlangen nach Bindung und Zugehörigkeit zählt zu den grundlegendsten Bedürfnissen. Säuglinge sind auf Bindung und Körperkontakt angewiesen, um zu überleben. Doch auch im späteren Leben bleibt der Wunsch nach Zugehörigkeit zentral. Wir wollen dazu gehören. In vielen Situationen unseres Alltags spüren wir dieses Bedürfnis – sei es in Freundschaften, in der Familie oder in Gemeinschaften.
Besonders betroffen macht mich die Erkenntnis, dass selbst Menschen, die behaupten, gut alleine zurechtzukommen, auf soziale Zurückweisung mit intensivem emotionalen Schmerz reagieren. Ablehnung und Trennung aktivieren die gleichen Gehirnregionen wie körperlicher Schmerz. Bindung ist somit lebensnotwendig wie Luft, Wasser oder Nahrung.
Die Bindungstheorie, die der britische Psychologe und Kinderarzt John Bowlby in den 1950er Jahren entwickelte, widmet sich der emotionalen Bindung zwischen Kindern und ihren Bezugspersonen, insbesondere den Eltern. Bowlby war überzeugt, dass frühe Erfahrungen mit diesen Bezugspersonen massgeblichen Einfluss auf die kindliche Entwicklung haben. Durch umfangreiche Beobachtungen und Forschungen, insbesondere zu Kindern, die von ihren Müttern getrennt waren – sei es durch Krieg, Krankheit oder andere Umstände – legte er die Grundlagen dieser Theorie.
Einfluss auf die Erziehung: Bowlbys Studien führten zu einem besseren Verständnis dafür, wie entscheidend sichere Bindungen für die emotionale Stabilität sind. In Psychologie, Pädagogik und Erziehungswissenschaften bleibt seine Forschung ein fundamentaler Bestandteil des Verständnisses menschlicher Beziehungen und Entwicklung. Die bindungsorientierte Erziehung hebt die Bedeutung von Sicherheit, emotionaler Unterstützung und stabilen Beziehungen zwischen Eltern und Kindern hervor. Gemeinsam mit der Psychologin Mary Ainsworth entwickelte Bowlby eine Typologie des Bindungsverhaltens, die bis heute von grosser Bedeutung ist.
Bindung ist für das Leben so notwendig wie Luft zum Atmen und Ernährung.
Bowlby und Ainsworth erweiterten ihre Forschung und identifizierten vier Bindungsarten, die sich im Laufe der frühen Kindheit entwickeln können.
- Sichere Bindung: Kinder mit einer sicheren Bindung fühlen sich in der Nähe ihrer Bezugspersonen wohl. Sie suchen Trost bei ihnen und sind in der Lage, sich von ihnen zu lösen, um die Welt zu erkunden. Diese Kinder erfahren, dass ihre Bedürfnisse zuverlässig erfüllt werden, was ihr Selbstvertrauen und ihre Unabhängigkeit stärkt.
- Unsichere vermeidende Bindung: Kinder mit diesem Bindungsstil zeigen wenig Emotionen, wenn ihre Bezugspersonen gehen oder zurückkehren. Sie neigen dazu, ihre Bedürfnisse zu unterdrücken und erleben den Erwachsenen als verunsichernd oder sogar bedrohlich. Diese Kinder lernen, ihre Bedürfnisse nicht zu äussern, da sie erfahren, dass ihre Bezugspersonen emotional nicht verfügbar sind.
- Unsichere ambivalente Bindung: Kinder mit ambivalenter Bindung sind oft ängstlich und zeigen sowohl starke Bindung als auch Widerstand gegenüber ihrer Bezugsperson. Sie erleben häufig inkonsistente Reaktionen und sind unsicher, ob ihre Bedürfnisse erfüllt werden. Dies führt zu einem übermässigen Bedürfnis nach Nähe, das gleichzeitig von Widerstand geprägt ist.
- Desorganisierte Bindung: Kinder mit diesem Bindungstyp haben oft traumatische Erfahrungen gemacht, die zu Desorganisation und Inkohärenz in ihren Beziehungen führen. Ihre Bedürfnisse bleiben unerfüllt, und sie können körperlicher oder psychischer Gewalt ausgesetzt sein. Diese Kinder zeigen oft ein Erstarren oder erleben tranceartige Zustände, die an dissoziative Phänomene erinnern, besonders in herausfordernden Situationen.
Die sichere Basis in der Bindungstheorie
Ein zentraler Begriff in der Bindungstheorie ist die «sichere Basis». Erwachsene, die feinfühlig auf die Bedürfnisse ihrer Kinder reagieren und ihnen in schwierigen Situationen Schutz bieten, fungieren als diese sichere Basis. Von dieser stabilen Grundlage aus gelingt es Kindern, die Welt zu erkunden und ihre Neugier auf gesunde Weise auszuleben. Menschen, die in ihrer Kindheit sichere Bindungen erlebt haben, pflegen entsprechend gesündere Beziehungen im Erwachsenenalter.
Die Art der Bindung, die ein Kind erfährt, hat einen tiefgreifenden Einfluss auf seine emotionale und soziale Entwicklung. Sichere Bindungen fördern das Selbstwertgefühl, die Fähigkeit zur Empathie und die Entwicklung stabiler Beziehungen im Erwachsenenalter.
Die Bindungstheorie findet nicht nur Anwendung im Kindesalter, sondern auch in romantischen Beziehungen bei Erwachsenen. Sie bietet wertvolle Einblicke in die Bedeutung von Beziehungen und deren Einfluss auf unser Leben. Unsere frühen Bindungserfahrungen können sich in den Bindungsstilen manifestieren, die wir im Erwachsenenleben zeigen. Vielleicht hast du dich schon gefragt, warum Menschen oft in dieselben toxischen Beziehungen geraten oder darin bleiben.
Unser Nervensystem ist darauf programmiert, Vertrautheit zu suchen. In der Kindheit sind wir darauf angewiesen, uns anzupassen und Strategien zu entwickeln, um mit Unsicherheiten umzugehen. Möglicherweise hast du gelernt, still zu sein oder perfekt zu funktionieren, um Liebe oder Aufmerksamkeit zu erhalten. Diese Muster werden tief in unserem System verankert. Später im Leben sucht unser Nervensystem nicht unbedingt nach Frieden, sondern nach Vertrautheit – selbst wenn diese Vertrautheit Chaos, Unsicherheit oder Schmerz bedeutet.
Kinder in dysfunktionalen Familien
Menschen, die uns an die Dynamiken unserer Kindheit erinnern, können sich auf einer unbewussten Ebene „richtig“ anfühlen – selbst wenn sie uns verletzen. Dies ist neurobiologisch erklärbar, da unser Gehirn Vertrautheit mit Sicherheit gleichsetzt.
Die Verhaltensweisen der Bindungspersonen prägen die Bindungsmuster der Kinder. Erleben Kinder ihre Bezugspersonen als unzuverlässig, unberechenbar, abweisend oder aggressiv, entwickeln sie ein unsicheres Bindungsmuster. In solchen Fällen lernen sie, ihrer Bindungsperson nicht voll zu vertrauen und setzen auf Selbstschutz.
Dysfunktionale Familien sind durch Konflikte, Missbrauch, Vernachlässigung oder fehlende Unterstützung geprägt. Solche Umstände beeinträchtigen die Fähigkeit der Eltern, eine sichere Bindung zu ihren Kindern aufzubauen. Die Familiengeschichte umfasst oft mehrere Generationen, einschliesslich Eltern, Kinder und Grosseltern. Auch Kinder, die von ihren leiblichen Eltern getrennt wurden, wie Pflege- oder adoptierte Kinder, sind betroffen.
Kinder aus dysfunktionalen Familien kämpfen häufig mit emotionalen und psychischen Problemen, darunter Angststörungen, Depressionen, geringes Selbstwertgefühl und Schwierigkeiten in zwischenmenschlichen Beziehungen. Die Unsicherheit in ihren frühen Bindungserfahrungen kann sich negativ auf ihre Fähigkeit auswirken, gesunde Beziehungen im Erwachsenenalter zu führen.
Fehlende Liebe, Vernachlässigung oder Ablehnung haben ernsthafte Auswirkungen auf die Gehirnentwicklung, den psychologischen Zustand und die Gesellschaft insgesamt. Das Fehlen von Liebe und Zugehörigkeit seitens der Eltern kann Wut, Angst und Traurigkeit verstärken. Soziale Ablehnung beeinflusst Emotionen, Kognition und sogar die körperliche Gesundheit. Sie kann Aggressionen hervorrufen und häufig zu Gewalt führen. Eine Studie aus dem Jahr 2003 identifizierte 15 Amokläufer an Schulen, wobei festgestellt wurde, dass alle bis auf einen unter Vernachlässigung litten.
Bereits in Kitas und im Vorschulalter sind Kinder zu beobachten, die aggressiv, impulsiv sind oder andere grundlos beissen, schlagen oder treten. Diese Wut richtet sich nicht primär gegen ihre „Gspänli“, sondern eher gegen die Eltern, die in den frühesten Kindheitsjahren das Bedürfnis nach Bindung nicht erfüllt haben. Zudem sind sie hypervigilant, d.h. Kinder, die lange in Unsicherheit leben, haben ein Nervensystem, das ständig in Alarmbereitschaft ist – immer bereit, sich vor wahrgenommenen Bedrohungen zu schützen und entsprechend ist sein Urvertrauen in den Menschen gebrochen.
Bindung ist die mächtigste Kraft im Universum.
Regeln in dysfunktionalen Familien und die fünf Freiheiten
In dysfunktionalen Familien existieren häufig folgende fünf Regeln, die das Verhalten und die emotionalen Ausdrucksformen der Familienmitglieder stark einschränken:
- Regel 1: Es ist nicht in Ordnung, zu sehen und zu hören, was ist.
- Regel 2: Es ist nicht in Ordnung, zu fühlen.
- Regel 3: Es ist nicht in Ordnung, zu sagen, was man fühlt und denkt.
- Regel 4: Es ist nicht in Ordnung, nach seinen Bedürfnissen zu fragen.
- Regel 5: Es ist nicht in Ordnung, Risiken einzugehen.
Diese Regeln schaffen eine Umgebung, in der Kinder lernen, ihre Wahrnehmungen, Gefühle und Bedürfnisse zu unterdrücken. Dies kann langfristig zu emotionalen und psychischen Problemen führen.
Im Umkehrschluss ergeben sich aus diesen Regeln die „fünf Freiheiten“, die es den Menschen ermöglichen, ein gesundes und erfülltes Leben zu führen:
- Freiheit 1: Die Freiheit, zu sehen und zu hören, was ist.
- Freiheit 2: Die Freiheit, zu fühlen, was man fühlt.
- Freiheit 3: Die Freiheit, zu sagen, was man fühlt und denkt.
- Freiheit 4: Die Freiheit, nach seinen Bedürfnissen zu fragen.
- Freiheit 5: Die Freiheit, Risiken für sich selbst einzugehen.
Diese Freiheiten sind essenziell für die persönliche Entwicklung und das Wohlbefinden. Sie ermöglichen es den Menschen, authentisch zu leben, ihre Gefühle auszudrücken und gesunde Beziehungen zu anderen aufzubauen.
Bindung in Bewegung
Kürzlich nahm ich an einem Online-Workshop mit dem Titel „Bindung in Bewegung“ teil, aus dem ich ein wichtiges Konzept entnahm, das in der Entwicklungspsychologie und Bindungsforschung häufig verwendet wird. Es bezieht sich auf die dynamische Natur von Bindungen und darauf, wie sich unsere Bindungsbeziehungen im Laufe der Zeit entwickeln und verändern können.
Meine Schlussfolgerung daraus ist: Bindung ist nicht statisch. Zwar formen uns unsere Kindheitserfahrungen zu den Erwachsenen, die wir sind – das gehört zur menschlichen Entwicklung – doch es ist möglich, sich von diesen Prägungen zu lösen. Beziehungen können sich vertiefen oder schwächen, abhängig von unseren emotionalen Bedürfnissen, Erfahrungen und den Interaktionen zwischen Menschen.
Lebensereignisse wie Umzüge, Schulwechsel, Trennungen oder der Verlust von Bezugspersonen können die Bindung erheblich beeinflussen. Diese Ereignisse können sowohl positive als auch negative Auswirkungen auf die Bindungsdynamik haben.
„Bindung in Bewegung“ betont, dass Bindung ein Prozess ist, der Kontakt und Kommunikation erfordert. Die Art und Weise, wie wir aufeinander reagieren, beeinflusst die Qualität unserer Bindungen. Positive Kommunikation und Unterstützung können die Bindung stärken, während Missverständnisse und Konflikte sie belasten können.
Denkst du jetzt gerade darüber nach, wie du selbst aufgewachsen bist? Grundsätzlich ist die Bindungstheorie ein wertvolles Werkzeug, um die Dynamik in unserem eigenen Familiensystem zu verstehen und Wege zu finden, emotionale Wunden zu heilen, die daraus entstanden sein können.
Was Erziehungsberechtigte daraus mitnehmen können, ist die Erkenntnis, dass Bindung immer wachsen, heilen und auch repariert werden kann, selbst wenn sie gelitten hat. Sie verändert sich mit den unterschiedlichen Lebensphasen, denn wir sind von Natur aus flexibel und anpassungsfähig. Durch positive Erfahrungen und persönliche Entwicklung können wir neue Bindungen eingehen oder bestehende Beziehungen neugestalten.
Bindung neu gestalten: Wege zur emotionalen Sicherheit
Vielleicht gehörst du zu den Eltern oder Pädagogen, die bereits viel gelesen und Kurse besucht haben, aber dennoch immer wieder in alte Muster zurückfallen. Das hat mit unserem limbischen System zu tun. Unser Gehirn hält aus verschiedenen Gründen an diesen alten Mustern fest – nicht zuletzt, weil sie uns vertraut und somit sicher erscheinen. Dieses Verhalten ist eine normale neurobiologische Reaktion auf das, was wir als Kinder erlebt haben.
Fazit: Je mehr Bindungssicherheit Kinder erfahren haben, desto selbstbewusster, selbstwirksamer und sozial kompetenter starten sie ins Leben. Glücklicherweise ist Bindung wandlungsfähig. Menschen können durch neue, unterstützende Beziehungen oder Therapie lernen, alte Muster zu erkennen und sicherere Bindungen zu entwickeln, um gesunde Beziehungen aufzubauen.
Unterstützungssysteme wie Lehrer, Verwandte oder Freunde können eine wichtige Rolle dabei spielen, Kindern aus dysfunktionalen Familien sichere Bindungserfahrungen zu bieten. Solche stabilen Beziehungen helfen den Kindern, Vertrauen aufzubauen und ihre emotionalen Bedürfnisse zu erfüllen.
Es bedarf mehr Unterstützung für Eltern und Lehrpersonen, um Bewusstsein und Prävention zu fördern und sie für die Auswirkungen auf die Bindung sowie die Stärkung von Beziehungen zu sensibilisieren. Alte Muster können nur aufgelöst werden, wenn wir an uns selbst arbeiten – am Körper (Nervensystem), am Herzen/Seele (Emotionen) und an unseren Glaubenssätzen (Gedanken).
Heilung ist jedoch nicht linear und folgt keinem festen Zeitplan. In der Neurobiologie wissen wir, dass das Nervensystem in Wellen arbeitet und sich nur langsam reguliert. Daher tragen wir alle eine immense Verantwortung – nicht nur für das Wissen, das wir vermitteln, sondern auch für die Weichen, die wir für die Zukunft unserer Kinder stellen. Jede Entscheidung, jedes Wort und jede Geste formt ihre Welt und prägt ihre Träume.
Norma Imlau, Fachautorin für Familienthemen, schreibt in ihrem Buch: „Wo wir Muster durchbrechen und alte Moralvorstellungen durch neue, zeitgemässere ersetzen, lassen wir Kinder mit Werten gross werden, die ihnen helfen werden, das Richtige zu tun, ohne dabei hart oder unnachgiebig mit sich selbst zu sein.“ Unverzichtbar für unsere Kinder sind also Liebe und Geborgenheit. Alles andere ist lediglich ein "Nice-to-have".
Das Thema „Bindung“ beschäftigt mich als Dauerpflegemutter und psychologische Beraterin. Daher bin ich leidenschaftlich motiviert, meine Erfahrungen und Kenntnisse in diesem Bereich weiterzugeben. Mit der Bunte Intelligenz®-Methodik habe ich eigene Workshops und Trainingsreihen entwickelt, die für Kinder, Jugendliche und Erwachsene geeignet sind – sowohl individuell als auch für Schulen. Wenn du mehr darüber erfahren möchtest, freue ich mich, von dir zu hören!
Herzlichst,
Patrizia
Quellenhinweis:
Eisenberger, N.I. & Lieberman, M.D. (2004). Why rejection hurts: a common neural alarm system for physical and social pain.
Eisenberger, N.I. (2011). Why rejection hurts: what social neuroscience has revealed about the brain’s response to social rejection.
Leary, M.R., Kowalski, R.M., Smith, L. & Phillips, S. (2003). Teasing, rejection, and violence: Case studies of the school shootings. Aggressive Behavior.
DeWall, C.N. & Bushman, J. (2011). Social acceptance and rejection: The sweet and the bitter.
Imlau, N. (2024). Bindung ohne Burnout. Beltz Verlag.
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